Samstag, 19. Januar 2013

Cesc



Sobald die schrille Glocke zum Abend erklang, ließ Cesc die Feder fallen. Er war noch lange nicht fertig, doch er konnte die vielen Gedanken über diese ganzen Dinge, die ihn so verärgerten, nun endlich ruhen lassen. Der Stuhl ächzte, als er sich zurücklehnte, seine schmerzenden Hände rieb und sein müder Blick durch das Büro wanderte. Doch wieder zog der Schreibtisch Cesc Blick an. Den chaotischen Haufen von Papieren, - Listen mit unbekannten Namen; Bilder von halben Armbrüsten; Anweisungen, wie man diese benutzt; - all diesen Kram, den Cesc so hasste, würde er morgen neu ordnen müssen und aufs Neue anfangen.
Als der Blick seiner hellgrauen Augen, die einst scharf und klar waren, den Schreibtisch entlang wanderte, stockte er bei der gerahmten Zeichnung, die schon fast fünf Jahre dort stand. Cesc streckte die Hand aus, um sie zu berühren, doch hielt inne. Er hatte sie selbst gezeichnet, auch wenn er kein großes Talent besaß, war sie ganz ordentlich geworden.
Als man ihm sein Pferd abgenommen hatte, und Cesc sich so hilflos wie niemals zuvor gefühlt hatte, beschloss er, eine Zeichnung von seinem geliebten Jorrik anzufertigen. Eines Tages würde die Erinnerung an seinen besten Freund verblassen, und so saß er damals, vor fünf Jahren in den bitterkalten Winternächten bei Jorrik im Stall und versuchte alles, was er an dem Tier so liebte, festzuhalten. Doch Cesc ahnte, dass er in einiger Zeit den Duft des Heus, der morgens an Jorriks Fell haftete, vergessen haben würde. Genauso wie das goldene Schimmern, das die ersten Sonnenstrahlen auf seinen Rücken und die Flanken malte. Und seine Augen. Seine wunderschönen grünen Augen. Kein anderes Pferd der gesamten Kaserne besaß solch eine besondere Augenfarbe. Cesc würde sich auch irgendwann nicht mehr an das Gefühl erinnern, dass er hatte, wenn er in Jorriks Augen blickte. Dieses Gefühl, dass alles wieder besser werden würde, - dass Erzen wieder in einem Grün erstrahlen würde, dass dem der Augen Jorriks glich.
Cesc konnte sich noch immer an seinen einzigen, treuen Freund erinnern. Wenn er die Zeichnung sah, hörte er das tiefe ruhige Atmen, fühlte das seidene warme Fell an seinen Fingerspitzen, es schien so nah, doch wenn er dann nur die Kälte des Messingrahmens spürte…
Cesc blinzelte und zog seine Hand, die noch immer vor der Zeichnung in der Luft schwebte, zurück und scharte die Papiere so laut wie möglich zusammen. Er war müde, und zusätzlich hatte sich vor einigen Stunden ein penetrantes Übelkeitsgefühl zu seinen Magenschmerzen, die er seit Monaten mit sich rumschleppte, gesellt. Er redete sich ein, die Übelkeit würde vom Hunger rühren. Seit Sonnenaufgang hatte er nichts gegessen. Gleichsam wusste Cesc aber insgeheim, dass nicht der Hunger schuld an seinem Leid war, sondern die düstere Vorahnung, was passieren würde, wenn er in ein wenigen Tagen seine junge frische Einheit einweisen musste.
Cesc rückte seine Uniform zurecht und machte sich zum Abendessen auf. Als er durch die Gänge wandelte und die ein oder anderen jungen Gesichte schüchtern auf seine Abzeichen blickten, wurde sein Ekelgefühl etwas stärker. Seit einer Ewigkeit glorifizierten sie alle, wie sicher und nobel die Arbeit für das Militär sei, doch in Wahrheit ging das Militär genauso unter wie ganz Erzen. Cesc hatte sich bereits daran gewöhnt, nicht mehr alle Privilegien seines hohen Dienstgrades genießen zu dürfen, doch die beschämende Degradierung zum Ausbilder schlug ihm wortwörtlich auf den Magen.
In dem großen Speisesaal herrschte schon reger Betrieb. Es wurde laut gelacht und hitzig diskutiert, wobei sowohl das eine wie auch das andere Cesc zuwider war. Er lief an der Essensschlange vorbei direkt zur Ausgabe.
„Was wird uns denn heute Gnadenvolles beschert?“, fragte er das neue Mädchen hinter der Theke.
„Dornwurzeintopf“, murmelte das blutjunge Ding. Sie erstarrte, als zu Cesc Brust blickte und fuhr stotternd fort.
„Verzeihung, ich…Ich glaube, in der Offiziersküche gibt es Rosslende mit Kirschkraut und Butterkuchen…mein Herr.“ Das alte Weib, das wohl bei dem Wort ‚Offiziersküche’ hellhörig geworden war, eilte herbei, so schnell es ihr krüppeliger Fuß erlaubte.
„Ich bitte um Vergebung für dieses törichte Kind, Leutnant. Ich schicke sofort jemanden in Ihr Büro…“ Cecs’ Übelkeit wurde stärker als er an die Rosslende dachte und in das zahnlose, rote Gesicht der Alten sah.
„Nein danke, ich nehme den Dornwurzeintopf.“ Die Alte sah Cesc so erschrocken an, als fürchtete sie, man würde sie für diesen Vorfall hinauswerfen. Das junge Mädchen schöpfte eilig die schwarze Brühe in einen Blechnapf und reichte ihn mit zittrigen kleinen Händchen über die Theke. Cesc nahm ihn wortlos entgegen und steuerte Richtung Ausgang. Der Lärm und die ganzen Leute waren Cesc heute wieder zu viel. Er ging den Weg an den Offiziersräumen rasch entlang und hoffte, die Ruhe würde währen.
„Edricson!“ Cesc blieb seufzend stehen und betete mit geschlossenen Augen, diese Unterhaltung würde nicht lang dauern. Er kannte diese schneidige Stimme zu gut, doch als er sich umdrehte und geradewegs auf die glänzenden Abzeichen einer breiten Brust starrte, stockte ihm der Atem.
„Guten Abend, Leutnant, Sie sind ja immer noch nicht gewachsen!“ Als Cesc seinen Blick nach oben richtete und in ein Gesicht sah, das sicher enttäuscht wäre, wenn niemand über seinen Witz lachen würde, machte sich eine wütende Stimmung in Cesc breit.
„Guten Abend, Hauptmann, womit kann ich dienen?“ Cesc sah am Ende des Ganges einen jungen Burschen, der einen Stapel Papiere in ein Büro bringen sollte. Als er Cesc und den Hauptmann sah, drehte er sich abrupt um und stolperte den Weg zurück.
„Haben Sie es eilig, Edricson? Ist dieser Schleim alles, was Sie essen wollen?“ Als Cesc keine Antwort gab, fuhr der Hauptmann leicht irritiert fort.
„Ich wollte fragen, wie die Vorbereitung auf die neuen Einheiten vorangeht. Ich möchte dem Generalleutnant gute Neuigkeiten bringen.“ Der Hauptmann wippte auf seinen Fußballen, vermutlich um seine Größe vor Cesc noch etwas zu unterstreichen. Cesc spürte schon lange keinen Eifersuchtsstich, den er in seiner Jugend mit sich getragen hatte. Er hatte sich damit zurecht gefunden, dass die meisten Leute größer waren als er.
„Hauptmann, ich fürchte, ich kann Ihnen diese Frage nicht zufriedenstellend beantworten. Man muss sich an neue Aufgabengebiete gewöhnen, und die Tatsache, dass alle Feldwebel, die mit der Ausbildung neuer Rekruten vertraut waren, wie vom Erdboden verschluckt sind, ist nicht förderlich. Niemand kann uns Leutnants dabei helfen.“ Cesc hatte kein gutes Gefühl dabei, vor seinem Vorgesetzten dem Ärger Luft zu machen. Der Hauptmann sah ihn scharf an, räusperte sich und antwortete erstaunlich ruhig.
„Wir wissen doch alle, dass die Feldwebel nicht vom Erdboden verschluckt sind, Sie müssen die Wichtigkeit…“ Der Hauptmann sah sich zu dem Burschen um, der bereits wieder um die Ecke geschlichen war. Der Hauptmann räusperte sich erneut.
„Edricson, Sie sind der einzige Leutnant, der ausbildet.“ Er sah Cesc mit einem steinernen Gesichtsausdruck an. Cesc spürte die Wärme aus seinem Körper schwinden und ein lautes Pochen in den Ohren. Die Magenschmerzen wurden nun so stark, dass er fürchtete, nicht aufrecht stehen zu können.
„Die Ausbildung ist in den Händen niederer Dienstgrade. Aber wir haben Sie mit hineingezogen, Edricson, wissen Sie….“ Der Hauptmann sah nun starr die Wand an.
„Wir haben gemerkt, dass Sie nicht mehr mit so viel Feuer bei der Sache sind. Daher der neue Aufgabenbereich. Vielleicht wird Ihnen das wieder Freude bereiten…die vielen neuen frischen Gesichter. Das verstehen Sie doch… Leutnant.“ Die kleinen Augen des Hauptmanns ruhten sorgenvoll auf Cesc Scheitel, er hatte seinen Blick wieder den glänzenden Abzeichen zugewendet.
„Um Ihre ursprüngliche Frage zu beantworten, Hauptmann“, begann Cesc mit kalter Stimme,
„Es geht voran. So schnell es geht, wenn man einen Schützentrupp anleiten muss ohne je ein Schütze gewesen zu sein.“ Cesc’ Stimme brach ab.
„Ach, Leutnant Edricson, Sie sind doch ein kluger erfahrener Mann, der Schützentrupp ist doch keine Aufgabe, das ist doch nur…“
„…die niedrigste Einheit.“ Cesc’ Augen und die des Hauptmanns trafen aufeinander. Für einen langen Moment herrschte trockene Stille. Der Hauptmann schluckte, holte tief Luft und stieß den Zeigefinger bedeutungsvoll in Cesc’ Brust.
„Nun, Edricson, zu diesem Thema habe ich Sie aufgehalten, ich möchte Ihnen etwas zeigen. Gerade Ihnen, da Sie ja nun die Schützen anführen. Kommen Sie mit!“ Der Hauptmann packte Cesc’ Schulter und führte ihn einen langen Weg durch die Kaserne entlang. Ohne Unterbrechung oder Achtung vor Cesc’ Magenschmerzen redete er weiter auf ihn ein.
„Das ist alles noch sehr geheim, was ich Ihnen gleich zeigen werde, aber ich dachte mir, dass Sie der richtige Mann sind, Edricson. Sie behalten Sachen für sich. Daher sind Sie auch der erste, dem ich dieses Schmuckstück zeige.“ Der Hauptmann keuchte vor Aufregung als sie die Treppe zu den Kerkern hinabstiegen.
„Der Generalleutnant hat strengste Maßnahmen getroffen, bevor es hierher gebracht wurde, niemand durfte es sehen.“ Cesc hatte bereits die Orientierung verloren, sie befanden sich in einem Teil der Kaserne, den er nie betreten hatte. Sie blieben vor einer schweren Eisentür stehen während der Hauptmann mit seinem Schlüsselbund rasselte.
„Nun erleben Sie ein Stück Geschichte, Edricson!“ Cesc’ Aufregung hielt sich in Grenzen, er war noch immer wütend und müde. Die Tür öffnete sich und ein großes Eisengebilde, ein Rohr auf Rädern, kam zum Vorschein. Cecs’ Blick schien der Situation wohl unpassend zu sein.
„Edricson, sehen Sie nur! Das ist die Zukunft der Kriegsführung, eine völlig neue Art der Feuerwaffe!“ Im Gegensatz zum Hauptmann, der aufgeregt um das Ungetüm herumlief, war Cesc’ Laune nun endgültig am Boden. Seine Befürchtung, sich nun mit neumodischem Kram herumplagen zu müssen, hatte sich bewahrheitet.
„Man setzt diese Eisenkugeln in das Rohr, stopft Schwarzpulver hier rein und zündet es an. Sie glauben nicht, was das für eine Durchschlagskraft besitzt, ich habe es selbst gesehen!“
„Hauptmann, verzeihen Sie, das ist alles sehr interessant, aber ich bin sehr müde von dem langen Tag.“ Das leuchtende Lächeln des Hauptmannes wich nun der Enttäuschung. Er hielt immer noch die Eisenkugeln in den Händen.
„Natürlich, Edricson, gute Nacht.“
„Gute Nacht, Hauptmann“, sagte Cesc, als er schon auf dem Weg hinaus war. Die Leere in seinem Inneren war einem Steinbrocken gewichen, der mindestens so viel wog wie diese Feuerwaffe. Der Hauptmann mochte sich so viel rausreden, wie er wollte, Cesc wusste, dass man ihn abschob. Seit ihm Jorrik abgenommen wurde, war er unbrauchbar geworden. Er fühlte sich wie ein Greis; gebrechlich, müde und langsam. Der lauwarme Wind durchfuhr tröstend sein schütter werdendes Haar, als er den Weg aus der Kaserne anschlug. Er konnte auch heute Nacht nicht hierbleiben, es zog ihn hinaus. Als er durch die Straßen zog, die jenseits der Kaserne lagen, konnte er für einen Augenblick seine Sorgen vergessen. In den meisten Baracken brannte noch Licht und hie und da war Klappern und Schlurfen zu hören. Cesc war unglücklich und unnütz, doch er hatte es gut. Er musste nicht wie die Zivilbevölkerung am Hungertuch nagen und jeden Tag bangen, ob er diese Woche überlebte. Er steuerte in die Querstraße, in der die großen Ziegelbauten standen. Nur die reichsten Erzener konnten sich darin eine Stube leisten. Als Cesc die Tür zum Haus erreichte, sah er am Straßeneck zwei kleine dunkle Gestalten und erkannte die lockigen weißen Haare sofort. Mit großen Schritten ging er auf sie zu. Der kleine Sohn der Schusterin kauerte mit einem noch kleineren Mädchen in der Ecke und trat nach Kieselsteinen.
„Ihr solltet bald nachhause gehen, es ist schon dunkel“, rief Cesc. Der kleine Junge starrte mit seinen schielenden Äuglein auf Cesc und grinste breit.
„Ist das deine Schwester?“ fragte Cecs laut und langsam. Der Kleine nickte und zog das Mädchen näher an sich ran. Sie hatte einen Klumpfuß und eine stark laufende Nase.
Cesc mochte die Schusterin, sie war eine tüchtige und gute Frau. Doch er hatte nicht um ihre Hand angehalten, da es sich nicht für ihn schickte, eine Witwe mit schwachsinnigen Kindern zu heiraten, auch wenn sie noch so lieblich waren. Cesc’ Magenschmerzen trafen ihn wieder, er gab den Kindern den Blechnapf mit dem kalten Eintopf und ließ sie versprechen, etwas davon für die Mutter aufzuheben. Dann ging er zurück zu dem Haus und hoffte, die heutige Nacht würde nicht so kurz werden wie die letzte. Er wurde noch vor Sonnenaufgang von dem vermaledeiten Vogel geweckt, der an das Fenster seines Nachbarn pickte. Ein schöner weißer Falke. Eigentlich sehr unüblich für diese Gegend. 
Als er im zweiten Stockwerk unter dem Dach angekommen war, legte er seine Uniform ab und lugte durch das kleine Fenster auf die Straße hinunter. Die Kinder waren verschwunden. Cesc hoffte, dass seine Schmerzen das morgen auch sein würden, während er in sein Bett kletterte. Er versuchte seinen Geist zu leeren und an schöne Dinge zu denken. Das sanfte Lächeln der Schusterin. Rotglänzendes Fell. Grüne Augen.

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