Als Polonia um die Mittagszeit ihr Haus verließ, musste sie
für eine Weile blinzelnd im Garten stehen bleiben. Die Sonne brannte bereits
gnadenlos auf das Land. Sie freute sich nicht auf den langen Weg, der ihr
bevorstand. Polonias Kreis siedelte in der Zeit der Saat bis zur Ernte am
Waldrand in einem der Baumhausdörfer. Die ausgehöhlten Stämme der gewaltigen
Bäume baten eine angenehme Kühle an solch heißen Tagen. Wenn die Pflanzen
anfingen zu sterben und die Kälte anbrach, zog ihr Kreis in die schützende Innenstadt.
Gerade wollte Polonia sich zur großen Straße aufmachen, die dort hinführte, als
Methel ihr hinterherlief. Methel war die Frau, die sie geboren hatte. „Polonia,
du hast die Zweige vergessen! Und kannst du bitte auf dem Rückweg Eis
beschaffen? Bitte?“ Methel hatte Tränen in den Augen und sprach nicht weiter. Die
Namensträgerin ihres Kreises hatte seit mehreren Tagen schweres Fieber. Polonia
hatte mitgehört, wie die anderen Hörigen sich ebenso große Sorgen machten wie
Methel. Sie alle blieben im Haus bei Zelela und ließen die Arbeit sein.
Polonia nahm die Zweige, nickte und ging zügig ihres Weges.
Es war so heiß, dass sie nicht wie üblich die Schönheit der Landschaft um sich
her bewunderte. Sie fand es eigentlich sehr spannend, zuzusehen, wie die Bauern
bei der Ernte Lieder sangen und riesige Wägen mit Obst und Gemüse füllten oder Kühe
auf die Weide trieben, doch heute wollte sie schnell zum nördlichen Tempel,
damit sie Zelela schon bald das Eis bringen konnte. Polonia wusste nicht, wie
viel Zeit vergangen war als sie endlich die vertrauten Umrisse der Innenstadt
sah. Freudig schlug ihr Herz höher und sie machte noch größere Schritte.
Weit um den Tempel scharten sich die Verkaufsstände und
Krämerläden. Es roch nach fein bearbeitetem Holz, getrockneten Früchten und
frisch gekochtem Essen. Hier herrschte lauter Trubel von den Verkäufern, die
ihre Ware anpriesen und Kindern, die zwischen den Ständen lachend umherliefen.
Wie gern Polonia hier geblieben wäre um
die schönen Sachen genauer zu bewundern, doch sie lief weiter auf das höchste
Bauwerk der Nordstadt zu, das bombastisch und ehrwürdig in den glühenden Himmel
ragte. Sie war fast an den Toren, als ihr Blick doch auf einen kleinen düster
wirkenden Stand fiel. Große starke Männer in dunklen Roben standen dicht
beieinander und blickten finster in die fröhliche Menschenmasse. Einer der
älteren rauchte eine Pfeife. Polonia konnte sich nicht erklären, warum diese
Begebenheit sie so faszinierte. Wahrscheinlich, weil alles daran so unnormal
war. Die dunkle Kleidung, die feindseligen Gesichter oder die Pfeife. Sie gab
sich einen Ruck und öffnete die schweren Holztore.
Als sie diese hinter sich schloss, überschwemmte sie ein
ehrfürchtiges Gefühl. Mit dem Krachen der Tore war ganz plötzlich all der laute
Trubel und die sengende Hitze ausgesperrt. Im Tempel herrschte meditative
Stille und eine befreiende Kühle. Polonias Ohren klingelten noch von dem Lärm
und ihr Atem ging schwer als sie sich langsam und andächtig der großen
Steinplatte näherte. Die Platte war so hoch wie ihr Baumhaus und mit Abstand
das Schönste, das Polonia kannte. Sie war das letzte Stück Magie, das aus der
Zeit der großen Hexenmeister übriggeblieben war. Mit jedem Augenzwinkern
zeigten die gemeißelten Figuren eine andere Geschichte. Polonia hatte schon so
oft versucht, ohne zu zwinkern die Geschichte zu verfolgen, doch sie schaffte
es nie, das Ende zu sehen. Die einen sagten, die Götter würden damit auf die
Fragen, die einem in der Seele brannten, beantworten. Andere wiederum, dass die
Götter den Auserwählten die Zukunft und den rechten weg zeigten. Polonia legte
die getrockneten Reisbeerzweige in die Glutschale vor der Platte. Sie
knisterten fröhlich und hauchdünne Rauchschwaden schlängelten sich himmelwärts.
Sie sah kleine gemeißelte Figuren, die merkwürdige Kleidung trugen. Sie standen
in einer Reihe an einem Fluss und hielten Speere und Schwerter. Das mussten
Soldaten sein. Polonia hatte Geschichten von ihnen gehört und Bilder von
Schwertern in Büchern gesehen. Polonia dachte zuerst, dass der Fluss der Erris
war, der Akiel und Erzen voneinander trennte, doch die Erde um den Fluss herum
war tot und trist. An dem Fluss standen Menschen in Lumpen gekleidet mit Eimern
in der Hand. Nein, das war nicht der Erris, Polonia hatte noch nie solche
Menschen und so eine Erde gesehen. Sie war einmal mit ihrem Kreis bis an den
großen Erris gereist. Sie war etwas enttäuscht, dass man das andere Ufer gar
nicht sehen konnte, doch war es trotzdem eine wunderbare Zeit gewesen. Sie und
die anderen Kinder ihres Kreises konnten von morgens bis abends an dem Wasser
spielen. Einmal haben sie sogar ein paar Schritte auf den morschen Holzplanken
gemacht, bis sie von den Erwachsenen erwischt wurden. Sie hat nie verstanden,
warum sie so viel Ärger bekommen hatten, nur wegen etwas, das mal ein Viadukt
war. Polonias Augen schweiften rasch in alle Richtungen der Platte, doch sie
sah nur noch verschwommenes Grau. Sie kniff ihre brennenden Augen zu und
öffnete sie wieder. Nun sah sie ein Bild von den Männern vor dem Tempel. Sie saßen
um einen runden Tisch voller Karten. Doch Polonias Augen brannten noch immer,
sodass sie beschloss, es für heute sein zu lassen. Sie kniete sich vor die
vielen Kästchen und Vasen, die als Opfer vor der Platte verteilt waren, und
schloss die Augen. Sie versuchte ihren Geist zu leeren und konzentrierte sich
auf das leise Knistern der Glutschale. Sie wartete bis sie ein stärkendes
Gefühl auf ihrem Scheitel verspürte.
„Oh ihr Götter, hört mein Flehen!“ Polonias Stimme wackelte
und Tränen strömten über ihr Gesicht. „Zelela war eine gute Namensträgerin. Sie
hat ihre Hörigen wie ihre eigenen Kinder behandelt. Vergebt unserem Kreis
unsere schlechten Taten. Ihr habt uns schon einen Namensträger genommen, lasst
Zelela in dieser Welt!“ Sie versuchte ihr Schluchzen zu unterdrücken und legte
ihre Stirn auf den kalten Steinboden des Tempels.
„Wir danken dir, großer Waldgott, der du unser Schirmherr
bist, dass du uns reichlich gibst. Gib auch den anderen Wäldnerkreisen genug um
die tote Zeit zu überstehen. Wir danken dir, mächtiger Feuergott, dass du genug
Sonne schenkst, damit die Früchte der Erde so reichlich gedeien. Ich bitte
dich, bleib uns in der toten Zeit gnädig, dass wir nicht erfrieren. Wir danken
dir, Wassergott, dass du die Erde und all ihre Kinder nährst, vergiss nicht
unsere Brüder in der Wüste, die nach Erlösung lechzen. Bitte, ihr Götter,
bleibt uns gnädig und verschont unsere Seelen vor Kummer.“
Polonia erhob sich langsam und blickte mit
tränenverschwommenen Augen auf die mächtige Platte. Sie dachte für einen
Moment, dass der Stein ein großes Feuer zeigte, dass sich aus Feldern und
Wäldern erhob, doch als sie die Tränen wegwischte, war das Bild verschwunden
und ein schöne Blumenwiese war zu sehen. Polonia hoffte, dass das ein gutes
Zeichen war und machte sich auf den Rückweg. Sie öffnete die Tore und erneut
traf sie die Hitze und der Lärm. Sie ging an den dunklen Männern und fröhlichen
Händlern vorbei hinaus aufs Land. Bevor die gepflasterte Straße endete und der
ausgetrampelte Pfad begann, der sie nachhause führen sollte, holte sie in dem
kleinen robusten Eishaus ein paar handvoll Eisstücke und versprach dem Eismann
für morgen Abend ein Körbchen Fuchspilze für ihn aufzubewahren.
Der Himmel hatte ein hübsches Lila angenommen als Polonia
zuhause angekommen war. Sie trat in die dunkle wohlige Kühle und sah bei
Zelelas Schlafplatz ein Licht brennen. Die Hörigen hatten sich alle um sie
herum versammelt. Polonia spürte eine unangenehme Brise als sie näher trat.
„Ich…Ich hab das Eis, Methel,“ sprach sie leise. Methel drehte sich um, sie
hatte geweint, aber sah ruhig und friedlich aus.
„Die Götter haben entschieden, Polonia.“ Polonia stockte der
Atem. „Aber…Aber ich hab doch...“ Ihre Stimme klang laut und schrill. Die
anderen blickten auf und fingen an, sie zu beruhigen. „Es ist gut, mein Kind,
das war wohl ihre Bestimmung. Die Götter sind weise und gnädig…“ Polonia
wischte verärgert ihre Tränen weg. „Wenn sie gnädig wären, hätten sie unser
Beten erhört! Zelela war noch so jung und musste so lange an ihrer Krankheit
leiden, das ist nicht gerecht!“ Methel sah sie nun sehr streng an. „Die Götter
sind groß, beleidige sie nicht und zweifle auch nicht an ihnen. Du bist noch zu
jung um das zu verstehen!“ „Ich bin nicht zu jung! Ich bin nicht mehr an meinen
Kreis gebunden und kann selbst über mich entscheiden!“ Polonia war so wütend,
dass sie ganz vergessen hatte, wie traurig sie eigentlich war. „Hütet eure
Zunge vor dem Angesicht des Leichnams unserer Namensträgerin!“ Corthal hatte
sich erbost erhoben und nahm mit seiner gewaltigen Größe fast die ganze Höhe
des Baumhauses ein. „Zelela ist friedlich in unserem Kreis verschieden, jetzt
müssen wir an unsere Zukunft denken!“
Jaha erhob sich nun ebenso. Zelela hatte ihn als erstes von
den Göttern in Empfang bekommen. Er war der einzige Namensträger, der diesem
Kreis geblieben war. Seine Schwester Maha war schon im Kindbett gestorben. „Ich
weiß, dass es nun meine Aufgabe sein wird, für uns zu sorgen, aber…“ Er
stockte. Für eine Weile war nur das Rauschen der Blätter draußen zu hören, dann
sprach Jaha weiter. „Ich kann das nicht. Ich wollte das auch nie!“ Er blickte
in die Runde der Hörigen, wahrscheinlich gefasst auf heftige Antworten. „Ich
habe vor einiger Zeit auf dem Markt vor dem Tempel ein Angebot bekommen, dass
ich im südlichen Tempel bei den Mönchen leben könnte. Ich könnte da so viel
lernen wie ich wollte und bereite mich für ein Leben im Dienst der Götter vor.
Ich denke, dass das meine Bestimmung ist.“ Wieder blickte er unsicher in die
erstaunten Gesichter. „Seht doch, ich meine…Unserem Kreis ist so viel Schmerz
widerfahren. Zuerst ist Jiwain von uns gegangen, der erste Namensträger, dann
Maha und jetzt Zelela! Das ist ein Zeichen. Ich muss herausfinden, warum die
Götter diesen Weg für uns bestimmt haben.“
Nach Jahas Rede herrschte drückende Stille. Es schien wie
eine Ewigkeit, als endlich der Hörigenälteste Qoto sagte: „Nun, Jaha, das ist
wohl deine Bestimmung. Es ist unser aller Bestimmung. Wenn es keine
Namensträger mehr gibt, werden sich die Hörigen an neue Kreise schließen
müssen, so ist unser Gesetz.“
„Aber es gibt nicht mehr so viel Wäldner, wie sollen wir
neue Kreise finden, wir wissen doch nichts von Feldarbeit oder Viehzucht!“ rief
Methel ängstlich.
„Nein! Unser Kreis bleibt bestehen! Wir sind stolz auf das,
was wir tun! Ich möchte meinen Namen an einen von euch weitergeben!“ Jahas
Brust schwoll an und er schien um einen Zoll zu wachsen. „Polonia! Du sollst
mein Erbe antreten. Du bist jung, klug, stark und hast einen eisernen Willen.
Du wirst es schaffen, unseren Namen in Ehren zu halten. Hiermit benenne ich
dich zu der Namensträgerin, Polonia Lutea!“
Polonia stand mit offenem Mund wie angewurzelt da und konnte
kaum glauben, was sie da gehört hatte. Sie hatte noch nie gehört, dass ein
Höriger zum Namensträger werden konnte. Einfach so.
„Meine Entscheidung steht fest. Wir richten morgen Zelelas
Grab und ich werde mich auf den Weg zum südlichen Tempel machen. Von da an wird
das alles dir gehören.“ Jaha ging raus zur Nachtwäsche, womit er die
Unterhaltung wohl beenden wollte. Polonia stand immer noch in Schockstarre da.
Qoto schlurfte mit einem sanftem Lächeln auf sie zu.
„Mein Kind, ich habe euch schon so oft von dem großen
Waldbrand erzählt. Niemand hätte je gedacht, dass dieser mächtige Wald jemals
vor irgendwas in die Knie gehen könnte. Doch in nur wenigen Tagen gab es kein
Leben mehr. So schien es. Doch wenn ich mir nun unser wunderschönes Land
ansehe,“ er schlurfte weiter zur offenen Tür und zeigte auf die Wipfel des
prächtigen Waldes, der, wie es Polonia schien, kein Ende hatte. „Wenn ich es so
sehe, dann ist aus der Asche dieses Grauens ein noch schönerer Wald entstanden.
Verstehst du das, Polonia?“ Qotos trübe grauen Augen trafen auf die klaren
schwarzen von Polonia.
„Ich habe verstanden“