Samstag, 8. März 2014

Fenian

"Vollidiot - so ein Trottel - ", nur Bruchstücke dessen, was Fenian an den Kopf geworfen wurde, drang zu ihm hindurch. In seinen Gedanken war er bei den Ereignissen die ihn überhaupt in diese Situation gebracht hatten. 

Fast eine Woche war Fenian durch die Straßen Erzens gewandert, begleitet vom stetigen Knurren seines Magens. Sein Weg zu den Viadukten hatte sich zuerst als Fehlschlag herausgestellt, da die Soldaten vom Vormittag bereits ihren Posten verlassen hatten. Alles hatte ruhig dagelegen, nur die Luft hatte noch immer von der Hitze des Nachmittags gesirrt. Erst am nächsten Tag hatte Fenian den Mut aufgebracht zur Kaserne zu gehen und dort nach einer Anstellung zu fragen. Die Männer am Eingang waren nett gewesen. Freundlich hatten sie Fenian Auskunft gegeben, doch ihre irritierten und belustigten Blicke konnten sie nicht verbergen. Erst Tage später sollte es erneut eine Rekrutierung geben. Also hatte Fenian sich durch die Straßen Erzens geschlagen bis er auf Achroit gestoßen war. Er war kaum älter als Fenian überragte ihn jedoch um einige Zentimeter. Achroit war einige Tage zu früh in der Hauptstadt angekommen und hatte das gleiche Schicksal wie Fenian erlitten; er konnte – oder eher wollte – nicht nach Hause zurück kehren. Achroit war der dritt-geborene Sohn einer reichen Familie Erzens, für seine Ausbildung hatten ihn seine Eltern aufs Land geschickt um dort alles zu lernen was er für eine Karriere beim Militär brauchte und jetzt da er alt genug war, war er in seine Heimat zurückgekehrt. Also hatte Fenian die letzte Zeit mit diesem großen bulligen Mann  verbracht und war mit ihm zur Kaserne gegangen. Sie hatten sich in eine der Reihen gestellt die sich bereits gebildet hatten und dort stand der Rothaarige auch jetzt noch, während ihn einer der Militärs anschrie. 

Die Flüche, mit denen ihn der Offizier bedachte, ließen Fenian immer mehr zusammenzucken, den Kopf konnte er schon nicht weiter einziehen. "- und jetzt geh endlich dorthin, wo du hingehörst! Ab in die letzte Reihe!" 
Noch versuchte der Rothaarige aufrecht zum anderen Ende des Platzes zu gehen, doch unter den Blicken, der in Reih und Glied stehenden anderen, sackte er immer mehr in sich zusammen. Fenian musste vorbei an all den hochgewachsenen und wohlgenährten jungen Männern der wohlhabenden Familien und auch an denen, die aus den Armenvierteln stammten. Am Ende angelangt, stand er in einer Reihe mit denen, die, genauso wie er, zuvor von der Gesellschaft gemieden wurden. Männer die nichts mehr hatten, deren Glieder bereits zu faulen begannen, oder die so abgemagert waren, dass sie keiner produktiven Arbeit nachkommen konnten. Fenians Mut schwand als er neben einem Mann mit verhärmtem Gesicht stehen blieb. Nicht mehr in einer starken Einheit wie zuvor, sondern zwischen Invaliden, stand er. Nur noch schwach drang die Stimme des Offiziers zu ihm durch, doch er konnte erahnen um was es ging. Die Worte "Untersuchung" und "Ärzte" fielen kurz bevor sich die Masse in Bewegung setzte. 
Als einer der letzen betrat Fenian die Eingangshalle des Krankenhauses. Riesige Treppen wanden sich über drei Stockwerke in die Höhe, eine davon führte auslandend in den ersten Stock. Steriles weiß lies die Wände in einem unnatürlichen Licht leuchten. Fenian war geblendet  von dieser Platzverschwendung. Allein auf die Grundfläche der Halle hätten mindestens zehn Hütten der Außenbezirke gepasst.  
Vor einer zweiflügligen Tür, im ersten Stock, stand eine Gruppe Männer, deren Alter und Aussehen nicht unterschiedlicher hätte sein können, wenn man von den weißen Mänteln absah, in die sie sich gehüllt hatten. Misstrauisch musterten sie die Masse an Rekruten, die weit unter ihnen standen. Auf der Treppe unter ihnen reihten sich junge Frauen auf, alle in weiße Kleider gehüllt. Mit festem Schritt trat einer der Männer aus der Gruppe heraus, trotz seiner ergrauenden Haare waren die Züge seines Gesichts noch immer mit Stolz und Eitelkeit erfüllt. "Als neue Rekruten werdet ihr hier einigen Tests unterzogen, die prüfen sollen, ob ihr gesundheitlich dazu geeignet seid, unserem Land zu dienen. Wir bitten deshalb die Rekruten des inneren Stadtbereichs mit uns Ärzten nach oben zu kommen. Die Herren aus den Außenbezirken werden bitte erst einmal unseren Schwestern folgen, sie werden sich um sie kümmern. Lassen sie uns keine Zeit verlieren." Zügig setzten sich die Ärzte in Bewegung und verschwanden hinter den Flügeltüren, ihnen folgte der vordere Teil der Rekruten. 
Fenian blieb mit dem Rest der Masse zurück und hatte nun die Möglichkeit einen genaueren Blick auf die Krankenschwestern zu werfen. Noch nie hatten er Frauen wir diese gesehen. Ihre Wangen waren rosig und voll, ihre Augen leuchteten, doch auf ihren Lippen lag kein Lächeln. Mürrisch pressten sie ihre Lippen aufeinander. Scheinbar war eine bessere Verpflegung kein Garant für ein Leben ohne Probleme. 
Eine der älteren Frauen trat aus den Reihen hervor und musterte die Rekruten nicht freundlicher als der Arzt zuvor. "Ihr alle werdet mit uns Schwestern ins Badehaus kommen. Dort sollt ihr euch waschen und frische Kleider bekommen. Danach kehrt ihr wieder hierher zurück und werdet von den Ärzten untersucht." Fenian blickte in die Gesichter derer die mit ihm zurückgeblieben waren. Er zweifelte jetzt nicht mehr daran, dass einige von ihnen nur hier waren, weil sie die Annehmlichkeiten eines heißen Bades und neuer Kleider für sich beanspruchen wollten. Und doch wirkten sie alle so anders als er selbst. Große, bullige Männer wechselten sich mit kleinen dicklichen, oder schlaksigen ab. Eine bunte Mischung entschlossener Kämpfer, Verzweifelter, Hoffnungsloser und Schnorrer, die sich alle vom heutigen Tag ein besseres Leben erhofften. 
'Ich bin nicht besser als sie', dachte Fenian. 'Auch ich will komfortabler und länger leben als der Rest in den Sums. Nicht einmal die Unterstützung die ich meinen Eltern zugesichert habe kann meinen eigenen Egoismus verbergen. Ich will weg. Nicht Vater hatte mich herausgeworfen, diese Entscheidung hatte ich ganz allein getroffen.' Zügig folgte Fenian den anderen Rekruten durch mehrere Gänge und über einen Innenhof. Erst als er das dämpfige Bad betreten hatte, hörte er erneut die Stimme der Krankenschwester. "zu jedem von euch wird eine Schwester kommen und sich um eure Kleidung und etwaigen Wunden kümmern. Verteilen sie sich bitte, es gibt genügend Waschzuber, dass auch jeder hier bedient sein wird." Voller Eifer verteilten sich die Männer auf die großen steinernen Wannen, die leicht erhöht aus dem Boden ragten. Sie hatten noch immer nicht begriffen, dass die propagierte Gleichheit doch nicht galt. Erst wenn sie sich halbwegs an die obere Schicht anpassten würden die hochgeborenen Ärzte einen Blick auf sie werfen. Also herrschte auch hier weiterhin die zwei-Klassen-Politik. Mit einem mulmigen Gefühl streifte Fenian seine Kleider ab und tauchte in das dampfende Wasser ein.

Zwischen das sanfte Plätschern des Wassers mischte sich aufgeregtes Rascheln und Raunen. Neugierig blickte Fenian sich um, sein Blick bleib an einer Gruppe Schwestern hängen, die sich anscheinend nicht einig wurden. "du kannst dir nicht immer raussuchen, wen du versorgst.", die nasale Stimme einer der Schwestern wehrte zu Fenian herüber. "Genau, du hast schon letztes Mal den besten Fang gemacht." Eine kleine etwas beleibtere, junge Schwester verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
"Vielleicht solltet ihr euch weniger zanken und lieber die Rekruten versorgen", ein leichtes kichern schwang in der hellen Stimme mit die einer dunkelhaarigen Schwester gehörte, die gerade an der Gruppe vorbeischlenderte. Sie machte auch nicht den Eindruck, als ob sie es eilig hätte wieder ihrer Arbeit nachzugehen. 
"Halt dich da raus, Eleina!“, keifte die Schwester mit hellem Haar, wie gesponnenes Gold, auf die die anderen zuvor losgegangen waren. 
„Oh, ich glaube sie hat durchaus Recht mit dem, was sie sagt, Fera. Egal um wen es sich bei euren Streitigkeiten diesmal handelt, Schwester Eleina wird sich nun um ihn kümmern. Der Rest verteilt sich jetzt endlich!“, die Stimme der Oberschwester dröhnte durch den gesamten Raum, so dass die Schwestern erschrocken zusammenzuckten und schnell ihrer Arbeit nachgingen.
Mit tänzelnden Schritten schwebte eine junge Frau auf Fenian zu, in ihren Händen hielt sie ein Körbchen gefüllt mit verschiedenen Seifen und Fläschchen voller Öl. „Ich bin Schwester Eleina, wie du sicher schon mitbekommen hast, und ich stehe dir zur Verfügung. Zuerst werde ich mich um deine Kleider kümmern.“ Lächelnd nahm sie den Haufen der am Boden lag und verschwand in einer der schwach beleuchteten Ecken. Verwirrt blickte Fenian ihr nach. Mit einem Seufzen ließ sich der Rothaarige tiefer in das dampfende Wasser gleiten. Angestrengt versuchte er nichts zu denken. Doch je mehr er sich konzentrierte, desto schneller schweiften seine Gedanken ab. Aufmerksam beobachtete er die anderen Schwestern, die immer wieder hin und her liefen um dann mit Handtüchern oder frischer Kleidung zurück zu den Zubern zu gehen. Mit einem  seltsamen Beigeschmack fragte er sich wer der andere Mann war, den  Schwester Eleina nun zusätzlich betreute.
Schamvoll blickte Fenian nur auf die von Schaum bedeckte Wasseroberfläche, als die dunkelhaarige Schwester wieder zurückkam. Noch nie war ihm eine Frau so nah gekommen, wenn er von seiner Mutter absah. Eleinas Berührungen auf seiner Haut ließen ihm einen sanften schauer über den Rücken jagen.
„Ein Handtuch und frische Kleidung für unseren neuen Krieger?“, erschrocken und verwirrt drehte er sich zu der jungen Frau um, die hinter ihm stand. Er hatte gar nicht gemerkt, dass Eleina gegangen war, so stark war der Nachhall ihrer Berührungen gewesen.  Lauthals lachend legte die Schwester das Stoffbündel auf den Schemel neben dem Zuber, bevor sie sich ganz nah zu dem Rothaarigen an den Rand des Bassins setzte. „Auch wenn ich noch nicht so oft bei den Auswahlverfahren dabei war, so einen Mann, wie dich, habe ich noch nie gesehen… Rotes Haar…. Ich habe noch nie solches gesehen… so rot… wie Feuer! Ich werde es nicht abschneiden.“, ein Lächeln legte sich auf die Lippen Eleinas, als sie einige Strähnen durch ihre Hände gleiten ließ. Erschrocken von ihren Fingern, die seinem Gesicht so nahe kamen, zuckte Fenian zusammen. „Hast du noch nie eine Frau so nahe an dich heran gelassen?“ Das Lächeln auf ihren Lippen ließ trotz des heißen Wassers einen kalter Schauer über seinen Rücken laufen. Ihre Augen blitzten gefährlich im Schein des Kerzenlichts. Vorsichtig griff Fenian nach dem Handtuch. Ihm war nicht wohl dabei, dass ihm Eleina so nahe war. Ihre dunklen Augen verschlangen jede Bewegung seiner Hände. Wie in der Schwärze einer Schlucht schien er in ihnen zu verschwinden, und mit ihm die Angst und Scheu, die er zuvor vor ihr verspürt hatte. Weshalb sollte er sich noch so sehr vor ihr zieren? Heute begann sein neues Leben.
„Was wäre, wenn ich ‚nein‘ sagen würde?“,  langsam fuhr Fenian mit seinen Fingern über den weichen Stoff des Handtuchs, fühlte, wie die langen, abstehenden Fäden unter seinem Druck nachgaben.
„Dann würde ich denken, dass alle Frauen da draußen keinen Geschmack hätten.“
„Ach ja?“
Anstatt zu antworten wickelte Eleina eine Strähne seines Haars um ihre Finger.  Mit einem Lächeln beobachtete er wie die Spitzen ihrer Finger so nah an seiner Haut entlangfuhren, dass kaum etwas fehlte um sie zu berühren. Jedoch konnte er dem Schauspiel nicht lange beiwohnen, denn die Schwester geriet bereits nach kurzem ins Stocken.
„Eleina, ich hoffe doch, du bist nicht zu abgelenkt von deinen Pflichten, um ihnen auch nachzukommen!“, donnerte die Stimme der Dienstältesten durch den gesamten Raum, so dass sich alle zu ihnen umdrehten.
„Nein, Schwester Isandre…“, erwiderte die jüngere reumütig.
„Dann geh jetzt und versorg die Kranken in der Halle!“ Mit einem tiefen Seufzen erhob sich Eleina und durchschritt den Raum.
Schwer lastete der abschätzige Blick der Schwester Isandre auf Fenian, während er sich beeilte es den anderen Anwärtern gleich zu tun und sich ankleidete.

Nachdenklich beobachtete Fenian die Kämpfe auf dem Exerzierplatz mit zusammengekniffenen Augen. Die Sonne brannte unbarmherzig, bereits in den frühen Vormittagsstunden. Es half nicht einmal etwas, dass Fenian seine Augen mit den Händen abschirmte um besser erkennen zu können, wie die Rekruten vor ihm ihre Übungen vollführten, denn die Schwerter und Schilde reflektierten das Sonnenlicht und blendeten die Zusehenden mehr als die bloße Sonne.
„Wahnsinnig… Ich muss wahnsinnig sein…“, murmelte der Rothaarige vor sich hin, während er mit jeder Sekunde die er wartete nervöser wurde. Auf was hatte er sich da nur eingelassen? Nach und nach wurden die Rekruten aufgerufen, um im Zweikampf gegeneinander anzutreten. Nicht um alles in der Welt wollte Fenian auch nur in die Nähe der Waffen kommen. Er spürte, wie tief in seinem Innern eine Unruhe nur darauf wartete von ihm Besitz zu ergreifen und ihn zu übermannen. Er kannte dieses Gefühl. Es war die Nervosität und das Wissen diese Chance erneut zu vertun, sobald er auch nur antrat. Genauso, wie bei all den Bewerbungen die er bei den Schmieden in seinem Bezirk getätigt hatte, überfiel ihn diese Unruhe auch jetzt, setzte sich fest in seiner Magengegend und breitete sich aus. Sie ließ seinen Mund trocken werden und in seiner Kehle den sauren Geschmack von Erbrochenem aufsteigen. Seine Finger zitterten, als er versuchte sie auszustrecken; schnell ließ er sie wieder zu einer Faust zusammenschnellen. Schmerzen zuckten durch seine Schultern, als er spürte, wie sich die Muskeln in ihnen verkrampften.
Fenian versuchte ruhig zu Atmen – ein und aus, ein und aus – doch selbst die vor sich hin gemurmelten Beruhigungsformeln, die ihm seine Mutter früher gesagt hatte, brauchten nichts. Mit jeder Minute die er weiter in einer Reihe mit den anderen Rekruten stehen musste steigerte sich seine Angst. Nur mit Mühe konnte er das Verlangen, sich zu Übergeben, unterdrücken.
Nach einer Ewigkeit des Wartens kam seine Erlösung. „Carya, Fenian!“, brüllte eine Stimme über den Platz. Jetzt war es so weit. Nun konnte er beweisen, was in ihm steckte. Seinem Vater, seiner Mutter, seinem Bezirk und noch mehr sich selbst. Mit bebendem Körper und bedächtigen Schritten ging der Rothaarige an den anderen Rekruten vorbei zu dem freien Übungsplatz. Es gab keinen Rückzug mehr.

Leise klirrte Glas, wie in weiter Ferne, begleitet von aufgeregtem Gemurmel. Fenian versuchte sich auf die Worte zu konzentrieren, die durch die umgreifende Dunkelheit drangen.
„Hey… du wach…?“ aus dumpfen Lauten formten sich langsam Worte, als der Junge flattern seine Augen öffnete. Schummriges Kerzenlicht warf dunkle Schatten an die Wände der kleinen Kammer in der er lag. Er blickte verwundert zu der Schwester, die geschäftig kleine Phiolen auf einem Schränkchen sortierte. Ihr Haarknoten hatte sich gelockert; sanft fielen ihr einige Strähnen in ihr Gesicht. „Bist du jetzt endlich wach?“, ein leichtes Lachen mischte sich in ihre warme Stimme, wie scharfe Splitter. Fenian erkannte die Dunkelhaarige wieder, als seine Augen die Unschärfe des Schlafs verlor. Sie war Eleina, die ihn zuvor schon betreut hatte. „Was ist passiert?“, noch immer war Fenians Stimme belegt, als er sich vorsichtig aufsetzte. „Ich weiß nur noch, dass ich den Kampfplatz betreten habe…. Die Schwerter klirrten aneinander, als ich mich verteidigte… danach….“, vorsichtig blickte Fenian auf seinen Arm, dessen pulsierender Schmerz ihm erst jetzt deutlich bewusst wurde.
„Was dir genau draußen los war kann ich dir nicht sagen, aber sie haben dich bereits betäubt hierher gebracht. Deine Schnittwunde wurde versorgt, genäht und bandagiert.-“ Fenian versuchte sich erneut zu erinnern, was genau geschehen war, doch vor seinen Augen verschwammen verschiedene Bilder, gleißendes Licht auf dem Hof, verdunkelt von Gesichtern, die auftauchten und wieder verschwanden. Münder, die sich bewegten, aber keine Worte formten. Deformierte Laute drängten sich aneinander, bis sie murmelnd gurrend ineinander liefen.
„Was ist mit meinem Auswahltest?“, unterbrach der Rothaarige Eleina barsch, auch wenn sich die Bedeutung seiner Worte nur schleppend formte.
„Den wirst du wohl wiederholen müssen. Mit dieser Verletzung kannst du nicht mehr teilnehmen.“, ehrliches bedauern schwang in ihrer Stimme mit, doch sie sah noch immer nicht von ihrer Arbeit auf.
„Nein!“, wütend versuchte Fenian von seinem Lager aufzustehen, doch er musste zu sehr darauf achten seinen Arm nicht zu belasten, um schnell zu sein. „Ich muss es zu Ende bringen! Ich kann nicht warten!“ Erschrocken wich die Schwester eine Armlänge von ihrem Patienten zurück. „Ich habe…. Ich habe es versprochen, dass ich es schaffen werde…“, Fenians Stimme wurde leiser. Nur mit Mühe konnte er die Tränen zurückhalten, die ihm aus Wut in die Augen schossen. Völlige Verzweiflung übermannte Fenian, als er realisierte, dass dies das aus für seinen Erfolg über seinen Vater sein könnte. Wenn er jetzt wieder zu Hause ankommen würde, dann konnte er sich sicher sein die Gunst Dyars nie wieder für sich gewinnen zu können.
Dieser eine Tag war alles, auf das er seine Chancen gesetzt hatte, sich zu beweisen. Ihm wurde nur zu schmerzlich bewusst, dass er dadurch nicht nur sich selbst und seinen Vater, aber vor allem seine Mutter enttäuscht hatte. Sie hatte einen Sohn verdient, der sie ernähren konnte, wenn sie Alt wurden. Jetzt hatte er seine Möglichkeiten vertan, durch seine eigene Ungeschicklichkeit.
„Hey Kleiner! Jetzt werf doch nicht gleich deinen Mut über Bord“, mit einem scherzhaften Ton versuchte Eleina den Jungen aufzumuntern. „Beweis ihnen doch einfach, wie ernst es dir ist. Auch wenn du jetzt vielleicht noch nicht so gut kämpfen kannst wie die anderen, du kannst dich noch verbessern. Nicht jeder, der ein großer Kämpfer ist, fängt auch gleich so an. Lass dich nicht von einem kleinen Kratzer entmutigen, während deiner Ausbildung werden noch mehr – und schlimmere – dazu kommen, das kann ich dir versprechen. Fast jeder Kadett kommt mehr als ein Mal während seiner Ausbildung zu uns.“ Ein ermutigendes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sich wieder von dem Rothaarigen abwante, um die Verbandsutensilien auf dem kleinen Tisch zusammen zu räumen. Für einen Moment konnte Fenian auf ihre Worte nichts erwidern. Sie hatte Recht. Doch wie konnte er beweisen, dass er Soldat werden wollte. Er tat es zwar nicht für sich selbst, aber er hatte den besten Ansporn den er sich vorstellen konnte: Seine Familie.
Ohne auf seinen verletzten Arm Rücksicht zu nehmen warf er sich seine Weste über, die am Fußende des Bettes lag und stieg in die bereitstehenden Stiefel.  Endlich hatte er eine Ahnung von dem, was er tun musste. Er würde aufhören jede Kleinigkeit allzu ernst zu nehmen und anzufangen seine Ziele zu erreichen. Der Schnitt in seinem Arm? Nebensache, wie Eleina gesagt hatte, er würde sich noch schlimmeres zuziehen, vor allem, falls es wirklich einmal zu einer Auseinandersetzung kommen würde.
„Was hast du vor?“, völlig entsetzt sah die Schwester dem Rothaarigen zu, wie er sich ankleidete.
„Ich befolge deinen Rat. Ich beweise ihnen, dass ich es ernst meine.“ Und mit diesen Worten war Fenian auch schon durch die Tür des Krankenzimmers verschwunden.
Blinzelnd sah sich Fenian auf dem hellen Flur um, in den er getreten war. Nur langsam konnte er sich vorstellen wo er nach seiner Verletzung gebracht worden war. Es musste das Gebäude sein, in dem auch die medizinischen Tests stattgefunden hatten. „Alles wird gut“, murmelte der Rothaarige vor sich hin, während er mit dem sichersten, ihm möglichen, Schritt den Weg zu den Exerzierplätzten zurücklegte. Trotz der Schmerzmittel die ihm gegeben wurden fühlte er noch immer ein leichtes ziehen im linken Oberarm.
Aufgeregtes Raunen ging durch einige der Reihen, als Fenian wieder zu den anderen trat und sich in seine Reihe einordnete.
„Was glaubst du machst du da?“, es hatte nicht lange gedauert, bis einer der Aufseher mit wutverzerrtem Gesicht vor ihn trat und ihn anblaffte. „Du wurdest bereits ausgesondert und zur Krankenstation gesendet!“
„Ich bin hier um meinen Aufnahmetest zu beenden, Sir.“, erwiderte Fenian, ohne sich seine Verunsicherung anmerken zu lassen.
„Die Test sind schon fast vollständig abgeschlossen und du hast bei Zweien nicht teilgenommen. Warum also solltest du überhaupt noch den Letzten absolvieren. Außerdem wirst du ihn so oder so nicht bestehen, jetzt wo dein Arm verletzt ist.“ Mit einem selbstgefälligen Lächeln drehte sich der Aufseher um und wollte gehen, doch so schnell wollte Fenian diesmal nicht aufgeben.
„Sir, ich will es trotzdem versuchen. Ich will am letzten Test teilnehmen, um zu beweisen, dass mein Wille Soldat zu werden stark genug ist.“
„Dein Wille kann so stark sein, wie er will, wenn du keine Leistung bringst wirst du niemals Soldat.“
Fenian war sich sicher, dass mittlerweile einige der anderen Rekruten zu ihnen hinübersehen mussten, doch er wandte seinen Blick nicht von dem Aufseher vor ihm ab. „Sir, ich bin bereit alles zu geben, was ich kann, wenn ich an dem nächsten Test teilnehmen kann.“
Mit Beunruhigung nahm Fenian die dunkelrote Färbung Gesichts seines Gegenübers wahr. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu hoffen, dass seine Hartnäckigkeit ihm nicht noch mehr Ärger einbrachte. Eine tiefe undurchdringliche Stille breitete sich in ihrem Umfeld aus, während er darauf wartete, dass er erneut angebrüllt werden würde,  etwas, das wohl zur Gewohnheit werden würde.
„Teru, wart mal.“, verwirrt vernahm Fenian hinter ihm eine schnarrende Stimme. „Lass es ihn doch versuchen, wenn er so versessen drauf ist. Dann können wir sehen, ob der Bursche zäh genug ist, oder zusammenbricht wie ein kleines Baby.  Die letzte Prüfung wird mit Sicherheit kein Zuckerschlecken.“, Hohn troff aus der Stimme hinter ihm. Der Aufseher vor dem Rothaarigen verzog verächtlich das Gesicht, bevor alle Emotion von ihm verschwanden. „Na schön. Auf deine Verantwortung Chare, falls jemand wissen will, wer ihn weiter gelassen hat.“
Erleichtert stieß Fenian seinen angehaltenen Atem aus, als sich der Aufseher entfernte und mit ihm die Blicke der anderen Rekruten. Er hatte es geschafft. Er durfte weiterhin an den Prüfungen teilnehmen.
Über seinem Triumph vergaß Fenian vollkommen, dass seine Schulter verletzt war. Seit langem war er einmal zufrieden mit dem was er geschafft hatte, auch wenn es nur ein kleiner Sieg auf dem Weg zum Erfolg war. Erst als er den nächsten Übungsplatz erreicht hatte wurde ihm schmerzlich bewusst, wie klein dieser war.
Die Rekruten standen in einer langen Schlange an, um von einem der Waffenmeister eine Holzapparatur unsanft in die Hände gedrückt zu bekommen. Misstrauisch beäugte Fenian das unförmige Gebilde. Noch nie hatte er so etwas gesehen. Die Soldaten auf Patrouille trugen meist nur ihre kurzen Einhänder, oder eine Lanze, und einen handlichen runden Schild. Jetzt jedoch hielt Fenian eine T-förmige Waffe in Händen, zwischen die gebogenen, kurzen Holzteile war, ähnlich der Säge seines Vaters, ein dünner, metallener Faden gespannt. Durch eine komplizierte metallene Apparatur wurde dieser im hinteren Bereich des längeren Holzstücks auf Spannung gehalten. Vorsichtig drehte Fenian diese sogenannte Armbrust in seinen Händen hin und her, betrachtete alles ganz genau, bis er sich sicher war, dass es sich um etwas Ähnliches, wie eine Schleuder handeln musste. Aufmerksam beobachtete er, wie die Rekruten vor ihm das Holzkreuz vor ihren Gesichtern balancierten und eine Ewigkeit warteten, bis sie den Abzug betätigten. Mit lautem Zischen rauschten die zuvor eingespannten Pfeile durch die Luft. Nicht alle trafen die Zielscheiben beim ersten Versuch, doch immer öfter ertönte das dumpfe Geräusch des Einschlags.
Zehn Rekruten wurden gleichzeitig geprüft und immer schneller rückte Fenian weiter nach vorne, bis er wie seine Vorgänger in einem Abstand von fünfzehn Metern vor großen bunt bemalten Strohzielen stehen blieb. „Rekruten, vor euch befinden sich Köcher mit fünf Bolzen, die Armbrüste wurden euch bereits zuvor ausgehändigt, damit ihr ein Gefühl für sie bekommt. Legt jetzt eure ersten Bolzen ein und befolgt genau meine Anweisungen.“ Fenian sah einen etwas kurz geratenen Mann mit langen Schritten die Rekruten abschreiten, während der andere neben ihm gelangweilt weiter sprach. „Versucht erst gar nicht euch zu sehr zu bemühen. Ihr werdet Wochen, wenn nicht sogar Monate brauchen, um zu lernen, wie ihr richtig Zielen könnt. Heute geht es nur darum um zu sehen, wie ihr euch im Großen und Ganzen anstellt. Wenn ihr euren Bolzen eingelegt habt versucht ihr mit der Spitze direkt auf die Mitte der Zielscheibe zu zielen. Nichts anderes. Wenn die Spitze in die Mitte zeigt, dann drückt einfach den Abzug auf der unteren Seite der Armbrust. Also! Los!“
Mit äußerster Vorsicht legte Fenian den ersten Bolzen ein. Er war langsamer als die anderen, die bereits damit begonnen hatten die Zielscheibe anzuvisieren. Allein die Waffe mit seinem verletzten Arm festzuhalten ließ stechende Schmerzen durch seinen gesamten Arm fahren, doch er bemühte sich sie so gerade wie möglich auf sein Ziel zu richten. Ruhig zielte er auf den Strohballen.
Er wollte abdrücken, den Bolzen sehen, wie er sich seinen Weg durch die Luft bahnte und in das Ziel einschlug, doch irgendetwas in Fenian ließ ihn zögern. Etwas hatte sich verändert. Die Luft stand nicht mehr still, wie noch ein paar Stunden zuvor. Leichter Wind war aufgezogen. Abwartend blickte Fenian zum Himmel empor, tatsächlich verdunkelte sich das Blau weit hinten am Horizont. Wolken.
Strähnen roten Haars wehten sanft in Fenians Sicht, während er wieder seinen Blick auf die Zielscheibe richtete. Er versuchte wieder auf die Mitte zu zielen, doch ihn störte etwas. Wenn er das Ziel wirklich mittig treffen wollte konnte er doch jetzt nicht mehr nach Anweisung handeln. Falls sich der Pfeil auch nur ansatzweise so verhalten würde, wie die Geschosse einer Schleuder, dann würde er auch genauso vom Wind in eine Richtung gedrückt werden, wenn er abgeschossen würde.
„Wie lange willst du dir noch Zeit lassen, Jungchen?!“ Fenian wurde unsanft durch die Stimme des zuvor gelangweilten Einweisers aus seinen Gedanken gerissen. „Jeder andere hat es schon geschafft, überhaupt einmal das Ziel zu treffen und du, du stehst hier immer noch herum und wartest darauf, dass die Zeit vergeht? Schieß endlich!“
„Ja, Sir!“, erwiderte Fenian hastig. Bedacht richtete er die Armbrust erneut auf die Zielscheibe, diesmal jedoch ein wenig weiter nach rechts oben als zuvor. Mit einem lauten Schnarren löste sich der Bolzen von der Armbrust und schnellte hervor. Ein scharfer Schmerz durchzuckte Fenians Arm und Schulter nach dem Abschuss, der Rückstoß übte mehr Belastung auf seine Wunde aus, als er erwartet hatte. Beunruhigt betrachtete der Rothaarige seinen Verband, der sich unaufhaltsam mit  Blut tränkte. Mit zitternden Händen und tiefen Atemzügen lud er die Armbrust nach und brachte sie erneut in Position. Gedankenversunken presste er seine Lippen aufeinander und schoss. Erst jetzt entspannte er sich etwas. Zwei Schüsse. Einen hatte er noch. Fenian wollte seine Armbrust gerade wieder spannen, als ihn der Aufseher davon abhielt. „Das genügt. Du hast uns schon lange genug aufgehalten.“ Der junge Mann wollte protestieren, doch er ließ es bleiben. Mit hängenden Schultern legte er den Bolzen wieder zurück und die Armbrust, neben dem Köcher, ab.
Nur kurz schweifte sein Blick über die Strohballen, die als Ziele fungiert hatten; etwas irritierte ihn. Nun musste er einen genaueren Blick auf sie werfen. Er konnte in seinem Ballen zwei Bolzen stecken sehen, die nahe beieinander lagen, sogar so nahe, dass der Rothaarige sie fast nicht auseinander halten konnte. Ein breites Grinsen machte sich auf Fenians Gesicht breit, als ihn einer der nächsten Rekruten von seinem Platz schob. Er hatte die Mitte getroffen. Ihm war egal, dass es nur der äußere Rand war. Er hatte getroffen und das, trotz seiner Verletzung, weit besser als die, die mit ihm an der Reihe gewesen waren.
Die Prüfungen waren zu Ende – das Warten begann. Für Fenian die schlimmste Zeit. Bereits auf seiner Suche nach Arbeit war es für ihn das Schlimmste gewesen zu warten, egal auf was. Jemandem gegenüber zu stehen, der im Gegensatz zu ihm einen gewissen Status – und sei es nur, dass derjenige einen Beruf ausübte – innehat, verunsicherte ihn. Seine Hände fingen an zu zittern und zu schwitzen, sein Atem ging unregelmäßig. Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, so dass er Angst hatte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Doch ihn verunsicherte noch etwas. Was sollte er tun? Konnte er es riskieren, sich mit jemandem zu unterhalten, oder würde er dabei wieder einen Fauxpas nach dem anderen begehen?
Unruhig schritt Fenian über den Platz, beobachtete wie sich einzelne Gruppen bildeten, die sich aufgeregt unterhielten, oder sich daran machten sich so nah wie möglich am Ausgang der Kaserne zu positionieren, um schnell wieder gehen zu können. Gerade jetzt wurde ihm erneut klar, wie einsam er doch war. Ein schwaches Seufzen entrang seinen Lippen, als er zu Achroit hinüber sah. Er war umringt von jungen Männern, die scheinbar alle aus dem Innern der Stadt kamen und Achroit selbst passte nur zu gut in ihren Kreis. Nicht einmal eine einzige Regung glitt über sein Gesicht, als er Fenian in der Menge erkannte.
Was hatte Fenian eigentlich erwartet, nach den paar Tagen, in denen sie sich kannten. Dass Achroit ihn als Freund ansehen würde? Ihn den größten Außenseiter den das Militär wohl seit jeher gesehen hat? Mit einem Stich des Bedauerns – für sich selbst – musste er sich eingestehen, dass er es geglaubt hatte. Er hatte gedacht, dass er endlich einen Freund gefunden hätte, dem es egal gewesen ist, was er war.
Der Rothaarige war bereits einige Male über den Platz gelaufen, als endlich die Stimme eines der Offiziere über den Platz schallte. Er verlas, welche Rekruten es geschafft hatten aufgenommen zu werden und in welche Corps sie eingeteilt wurden. Anfangs hörte Fenian noch aufmerksam zu; natürlich wurde Achroit den Schwertkämpfern zugeteilt; doch nach einiger Zeit, und einer gefühlt endlos langen Liste an Namen, hörte Fenian auf zuzuhören und betrachtete die Viadukte.
Wie es wohl gewesen sein musste, in der Zeit zu leben, als diese riesigen Monumente errichtet worden waren.  Sicherlich war es eine bessere Zeit als diese.
Erst als der letzte Corps aufgerufen wurde hörte Fenian wieder etwas genauer hin. Er wollte wenigstens nicht das Ende verpassen, ab wann ihn seine Hoffnung vollends genommen würde.

„Zum Schützencorps wurden folgende Rekruten zugelassen. Nummer eins: Delarai, Rutil. Zwei: Forel, Beekit –“ Immer mehr Namen reihten sich aneinander und Fenian war schon bald von vor Freude erhellten und von Niedergeschlagenheit verdunkelten Gesichtern umgeben. Ein tiefes Seufzen erschütterte den Soldaten, der auf dem Podest stand und die Namen verlas, es war der Aufseher Teru, der ihn noch vor ein paar Stunden nach Hause schicken wollte. „Und der letzte, der in dieser Periode aufgenommen wird, Nummer Zehn – Carya, Fenian.“