Sobald
die schrille Glocke zum Abend erklang, ließ Cesc die Feder fallen. Er war noch
lange nicht fertig, doch er konnte die vielen Gedanken über diese ganzen Dinge,
die ihn so verärgerten, nun endlich ruhen lassen. Der Stuhl ächzte, als er sich
zurücklehnte, seine schmerzenden Hände rieb und sein müder Blick durch das Büro
wanderte. Doch wieder zog der Schreibtisch Cesc Blick an. Den chaotischen
Haufen von Papieren, - Listen mit unbekannten Namen; Bilder von halben
Armbrüsten; Anweisungen, wie man diese benutzt; - all diesen Kram, den Cesc so
hasste, würde er morgen neu ordnen müssen und aufs Neue anfangen.
Als
der Blick seiner hellgrauen Augen, die einst scharf und klar waren, den
Schreibtisch entlang wanderte, stockte er bei der gerahmten Zeichnung, die
schon fast fünf Jahre dort stand. Cesc streckte die Hand aus, um sie zu
berühren, doch hielt inne. Er hatte sie selbst gezeichnet, auch wenn er kein
großes Talent besaß, war sie ganz ordentlich geworden.
Als
man ihm sein Pferd abgenommen hatte, und Cesc sich so hilflos wie niemals zuvor
gefühlt hatte, beschloss er, eine Zeichnung von seinem geliebten Jorrik
anzufertigen. Eines Tages würde die Erinnerung an seinen besten Freund
verblassen, und so saß er damals, vor fünf Jahren in den bitterkalten Winternächten
bei Jorrik im Stall und versuchte alles, was er an dem Tier so liebte,
festzuhalten. Doch Cesc ahnte, dass er in einiger Zeit den Duft des Heus, der
morgens an Jorriks Fell haftete, vergessen haben würde. Genauso wie das goldene
Schimmern, das die ersten Sonnenstrahlen auf seinen Rücken und die Flanken
malte. Und seine Augen. Seine wunderschönen grünen Augen. Kein anderes Pferd
der gesamten Kaserne besaß solch eine besondere Augenfarbe. Cesc würde sich
auch irgendwann nicht mehr an das Gefühl erinnern, dass er hatte, wenn er in
Jorriks Augen blickte. Dieses Gefühl, dass alles wieder besser werden würde, -
dass Erzen wieder in einem Grün erstrahlen würde, dass dem der Augen Jorriks
glich.
Cesc
konnte sich noch immer an seinen einzigen, treuen Freund erinnern. Wenn er die
Zeichnung sah, hörte er das tiefe ruhige Atmen, fühlte das seidene warme Fell
an seinen Fingerspitzen, es schien so nah, doch wenn er dann nur die Kälte des
Messingrahmens spürte…
Cesc
blinzelte und zog seine Hand, die noch immer vor der Zeichnung in der Luft
schwebte, zurück und scharte die Papiere so laut wie möglich zusammen. Er war
müde, und zusätzlich hatte sich vor einigen Stunden ein penetrantes
Übelkeitsgefühl zu seinen Magenschmerzen, die er seit Monaten mit sich
rumschleppte, gesellt. Er redete sich ein, die Übelkeit würde vom Hunger
rühren. Seit Sonnenaufgang hatte er nichts gegessen. Gleichsam wusste Cesc aber
insgeheim, dass nicht der Hunger schuld an seinem Leid war, sondern die düstere
Vorahnung, was passieren würde, wenn er in ein wenigen Tagen seine junge
frische Einheit einweisen musste.
Cesc
rückte seine Uniform zurecht und machte sich zum Abendessen auf. Als er durch
die Gänge wandelte und die ein oder anderen jungen Gesichte schüchtern auf
seine Abzeichen blickten, wurde sein Ekelgefühl etwas stärker. Seit einer
Ewigkeit glorifizierten sie alle, wie sicher und nobel die Arbeit für das
Militär sei, doch in Wahrheit ging das Militär genauso unter wie ganz Erzen.
Cesc hatte sich bereits daran gewöhnt, nicht mehr alle Privilegien seines hohen
Dienstgrades genießen zu dürfen, doch die beschämende Degradierung zum
Ausbilder schlug ihm wortwörtlich auf den Magen.
In
dem großen Speisesaal herrschte schon reger Betrieb. Es wurde laut gelacht und
hitzig diskutiert, wobei sowohl das eine wie auch das andere Cesc zuwider war.
Er lief an der Essensschlange vorbei direkt zur Ausgabe.
„Was
wird uns denn heute Gnadenvolles beschert?“, fragte er das neue Mädchen hinter
der Theke.
„Dornwurzeintopf“,
murmelte das blutjunge Ding. Sie erstarrte, als zu Cesc Brust blickte und fuhr
stotternd fort.
„Verzeihung,
ich…Ich glaube, in der Offiziersküche gibt es Rosslende mit Kirschkraut und
Butterkuchen…mein Herr.“ Das alte Weib, das wohl bei dem Wort ‚Offiziersküche’
hellhörig geworden war, eilte herbei, so schnell es ihr krüppeliger Fuß
erlaubte.
„Ich
bitte um Vergebung für dieses törichte Kind, Leutnant. Ich schicke sofort
jemanden in Ihr Büro…“ Cecs’ Übelkeit wurde stärker als er an die Rosslende
dachte und in das zahnlose, rote Gesicht der Alten sah.
„Nein
danke, ich nehme den Dornwurzeintopf.“ Die Alte sah Cesc so erschrocken an, als
fürchtete sie, man würde sie für diesen Vorfall hinauswerfen. Das junge Mädchen
schöpfte eilig die schwarze Brühe in einen Blechnapf und reichte ihn mit zittrigen
kleinen Händchen über die Theke. Cesc nahm ihn wortlos entgegen und steuerte
Richtung Ausgang. Der Lärm und die ganzen Leute waren Cesc heute wieder zu
viel. Er ging den Weg an den Offiziersräumen rasch entlang und hoffte, die Ruhe
würde währen.
„Edricson!“
Cesc blieb seufzend stehen und betete mit geschlossenen Augen, diese
Unterhaltung würde nicht lang dauern. Er kannte diese schneidige Stimme zu gut,
doch als er sich umdrehte und geradewegs auf die glänzenden Abzeichen einer
breiten Brust starrte, stockte ihm der Atem.
„Guten
Abend, Leutnant, Sie sind ja immer noch nicht gewachsen!“ Als Cesc seinen Blick
nach oben richtete und in ein Gesicht sah, das sicher enttäuscht wäre, wenn
niemand über seinen Witz lachen würde, machte sich eine wütende Stimmung in
Cesc breit.
„Guten
Abend, Hauptmann, womit kann ich dienen?“ Cesc sah am Ende des Ganges einen
jungen Burschen, der einen Stapel Papiere in ein Büro bringen sollte. Als er
Cesc und den Hauptmann sah, drehte er sich abrupt um und stolperte den Weg
zurück.
„Haben
Sie es eilig, Edricson? Ist dieser Schleim alles, was Sie essen wollen?“ Als
Cesc keine Antwort gab, fuhr der Hauptmann leicht irritiert fort.
„Ich
wollte fragen, wie die Vorbereitung auf die neuen Einheiten vorangeht. Ich
möchte dem Generalleutnant gute Neuigkeiten bringen.“ Der Hauptmann wippte auf
seinen Fußballen, vermutlich um seine Größe vor Cesc noch etwas zu
unterstreichen. Cesc spürte schon lange keinen Eifersuchtsstich, den er in
seiner Jugend mit sich getragen hatte. Er hatte sich damit zurecht gefunden,
dass die meisten Leute größer waren als er.
„Hauptmann,
ich fürchte, ich kann Ihnen diese Frage nicht zufriedenstellend beantworten.
Man muss sich an neue Aufgabengebiete gewöhnen, und die Tatsache, dass alle
Feldwebel, die mit der Ausbildung neuer Rekruten vertraut waren, wie vom
Erdboden verschluckt sind, ist nicht förderlich. Niemand kann uns Leutnants
dabei helfen.“ Cesc hatte kein gutes Gefühl dabei, vor seinem Vorgesetzten dem
Ärger Luft zu machen. Der Hauptmann sah ihn scharf an, räusperte sich und
antwortete erstaunlich ruhig.
„Wir
wissen doch alle, dass die Feldwebel nicht vom Erdboden verschluckt sind, Sie
müssen die Wichtigkeit…“ Der Hauptmann sah sich zu dem Burschen um, der bereits
wieder um die Ecke geschlichen war. Der Hauptmann räusperte sich erneut.
„Edricson,
Sie sind der einzige Leutnant, der ausbildet.“ Er sah Cesc mit einem steinernen
Gesichtsausdruck an. Cesc spürte die Wärme aus seinem Körper schwinden und ein
lautes Pochen in den Ohren. Die Magenschmerzen wurden nun so stark, dass er
fürchtete, nicht aufrecht stehen zu können.
„Die
Ausbildung ist in den Händen niederer Dienstgrade. Aber wir haben Sie mit
hineingezogen, Edricson, wissen Sie….“ Der Hauptmann sah nun starr die Wand an.
„Wir
haben gemerkt, dass Sie nicht mehr mit so viel Feuer bei der Sache sind. Daher
der neue Aufgabenbereich. Vielleicht wird Ihnen das wieder Freude bereiten…die
vielen neuen frischen Gesichter. Das verstehen Sie doch… Leutnant.“ Die kleinen
Augen des Hauptmanns ruhten sorgenvoll auf Cesc Scheitel, er hatte seinen Blick
wieder den glänzenden Abzeichen zugewendet.
„Um
Ihre ursprüngliche Frage zu beantworten, Hauptmann“, begann Cesc mit kalter
Stimme,
„Es
geht voran. So schnell es geht, wenn man einen Schützentrupp anleiten muss ohne
je ein Schütze gewesen zu sein.“ Cesc’ Stimme brach ab.
„Ach,
Leutnant Edricson, Sie sind doch ein kluger erfahrener Mann, der Schützentrupp
ist doch keine Aufgabe, das ist doch nur…“
„…die
niedrigste Einheit.“ Cesc’ Augen und die des Hauptmanns trafen aufeinander. Für
einen langen Moment herrschte trockene Stille. Der Hauptmann schluckte, holte
tief Luft und stieß den Zeigefinger bedeutungsvoll in Cesc’ Brust.
„Nun,
Edricson, zu diesem Thema habe ich Sie aufgehalten, ich möchte Ihnen etwas
zeigen. Gerade Ihnen, da Sie ja nun die Schützen anführen. Kommen Sie mit!“ Der
Hauptmann packte Cesc’ Schulter und führte ihn einen langen Weg durch die
Kaserne entlang. Ohne Unterbrechung oder Achtung vor Cesc’ Magenschmerzen
redete er weiter auf ihn ein.
„Das
ist alles noch sehr geheim, was ich Ihnen gleich zeigen werde, aber ich dachte
mir, dass Sie der richtige Mann sind, Edricson. Sie behalten Sachen für sich.
Daher sind Sie auch der erste, dem ich dieses Schmuckstück zeige.“ Der
Hauptmann keuchte vor Aufregung als sie die Treppe zu den Kerkern hinabstiegen.
„Der
Generalleutnant hat strengste Maßnahmen getroffen, bevor es hierher gebracht
wurde, niemand durfte es sehen.“ Cesc hatte bereits die Orientierung verloren,
sie befanden sich in einem Teil der Kaserne, den er nie betreten hatte. Sie
blieben vor einer schweren Eisentür stehen während der Hauptmann mit seinem
Schlüsselbund rasselte.
„Nun
erleben Sie ein Stück Geschichte, Edricson!“ Cesc’ Aufregung hielt sich in
Grenzen, er war noch immer wütend und müde. Die Tür öffnete sich und ein großes
Eisengebilde, ein Rohr auf Rädern, kam zum Vorschein. Cecs’ Blick schien der
Situation wohl unpassend zu sein.
„Edricson,
sehen Sie nur! Das ist die Zukunft der Kriegsführung, eine völlig neue Art der
Feuerwaffe!“ Im Gegensatz zum Hauptmann, der aufgeregt um das Ungetüm
herumlief, war Cesc’ Laune nun endgültig am Boden. Seine Befürchtung, sich nun
mit neumodischem Kram herumplagen zu müssen, hatte sich bewahrheitet.
„Man
setzt diese Eisenkugeln in das Rohr, stopft Schwarzpulver hier rein und zündet
es an. Sie glauben nicht, was das für eine Durchschlagskraft besitzt, ich habe
es selbst gesehen!“
„Hauptmann,
verzeihen Sie, das ist alles sehr interessant, aber ich bin sehr müde von dem
langen Tag.“ Das leuchtende Lächeln des Hauptmannes wich nun der Enttäuschung.
Er hielt immer noch die Eisenkugeln in den Händen.
„Natürlich,
Edricson, gute Nacht.“
„Gute
Nacht, Hauptmann“, sagte Cesc, als er schon auf dem Weg hinaus war. Die Leere
in seinem Inneren war einem Steinbrocken gewichen, der mindestens so viel wog
wie diese Feuerwaffe. Der Hauptmann mochte sich so viel rausreden, wie er
wollte, Cesc wusste, dass man ihn abschob. Seit ihm Jorrik abgenommen wurde,
war er unbrauchbar geworden. Er fühlte sich wie ein Greis; gebrechlich, müde
und langsam. Der lauwarme Wind durchfuhr tröstend sein schütter werdendes Haar,
als er den Weg aus der Kaserne anschlug. Er konnte auch heute Nacht nicht
hierbleiben, es zog ihn hinaus. Als er durch die Straßen zog, die jenseits der
Kaserne lagen, konnte er für einen Augenblick seine Sorgen vergessen. In den
meisten Baracken brannte noch Licht und hie und da war Klappern und Schlurfen
zu hören. Cesc war unglücklich und unnütz, doch er hatte es gut. Er musste
nicht wie die Zivilbevölkerung am Hungertuch nagen und jeden Tag bangen, ob er
diese Woche überlebte. Er steuerte in die Querstraße, in der die großen
Ziegelbauten standen. Nur die reichsten Erzener konnten sich darin eine Stube
leisten. Als Cesc die Tür zum Haus erreichte, sah er am Straßeneck zwei kleine
dunkle Gestalten und erkannte die lockigen weißen Haare sofort. Mit großen
Schritten ging er auf sie zu. Der kleine Sohn der Schusterin kauerte mit einem
noch kleineren Mädchen in der Ecke und trat nach Kieselsteinen.
„Ihr
solltet bald nachhause gehen, es ist schon dunkel“, rief Cesc. Der kleine Junge
starrte mit seinen schielenden Äuglein auf Cesc und grinste breit.
„Ist
das deine Schwester?“ fragte Cecs laut und langsam. Der Kleine nickte und zog
das Mädchen näher an sich ran. Sie hatte einen Klumpfuß und eine stark laufende
Nase.
Cesc
mochte die Schusterin, sie war eine tüchtige und gute Frau. Doch er hatte nicht
um ihre Hand angehalten, da es sich nicht für ihn schickte, eine Witwe mit
schwachsinnigen Kindern zu heiraten, auch wenn sie noch so lieblich waren.
Cesc’ Magenschmerzen trafen ihn wieder, er gab den Kindern den Blechnapf mit
dem kalten Eintopf und ließ sie versprechen, etwas davon für die Mutter
aufzuheben. Dann ging er zurück zu dem Haus und hoffte, die heutige Nacht würde
nicht so kurz werden wie die letzte. Er wurde noch vor Sonnenaufgang von dem
vermaledeiten Vogel geweckt, der an das Fenster seines Nachbarn pickte. Ein
schöner weißer Falke. Eigentlich sehr unüblich für diese Gegend.
Als
er im zweiten Stockwerk unter dem Dach angekommen war, legte er seine Uniform
ab und lugte durch das kleine Fenster auf die Straße hinunter. Die Kinder waren
verschwunden. Cesc hoffte, dass seine Schmerzen das morgen auch sein würden,
während er in sein Bett kletterte. Er versuchte seinen Geist zu leeren und an schöne
Dinge zu denken. Das sanfte Lächeln der Schusterin. Rotglänzendes Fell. Grüne
Augen.